Bitte nicht anfassen
Neulich habe ich einen Kunden besucht. Sein Studio ist ein Traum: Schöne Architektur, edle Materialien, hochwertige Möbel, gutes Design, schönes Farbkonzept. Da lacht eigentlich mein Ästheten-Herz. Aber nur eigentlich. Denn eine wichtige Sache fehlte in diesen wunderschönen Räumlichkeiten: Charisma.
Die Räume waren so unnahbar, wie dessen Besitzer selbst: Nach außen schick und zeitlos, Zertifikate und Auszeichnungen an den Wänden. Bei genauerem Hinsehen jedoch, immer ein wenig auf Abstand. So als wäre eine unsichtbare Scheibe zwischen dem Inventar und mir.
Wohnräume für Perfektionisten
In Räumen wie diesen fühlt man sich nicht willkommen. Sondern eher so, als würde man stören. Als solle man bloß nicht zu lange bleiben. Als müsse man aufpassen, dass kein Krümelchen Dreck sich auf den Boden verirrt. Kein Stuhl minimal anders platziert wird. Als fühle man sich verpflichtet, nach dem Händewaschen das Waschbecken auszuwischen. Keine Frage, aber echtes Leben und Arbeiten fühlt sich anders an.
Mentale Gesundheit und Perfektionismus
Für meinen geschulten Blick war sofort klar: Hier arbeitet ein Mensch, der Angst davor hat, Fehler zu machen. Der nur schwer die Kontrolle abgeben kann. Und der um jeden Preis verhindern möchte, dass diese perfekte Fassade bröckelt – andere bemerken könnten, dass auch hier nicht immer alles glatt läuft. Nach außen perfekt designt und organisiert. Innen jedoch, ein kreativer Mensch voller Selbstzweifel, ohne Spirit und Esprit.
Ordnung als emotionale Kompensation
Räume spiegeln all die unbewussten Muster wider, die auch im Business die Spielregeln bestimmen. Der „perfekte Raum“ wird zur Maske. Zur Bühne, die nicht nur Kunden, sondern auch Mitarbeiter, Besucher oder Freunde auf Abstand hält. Die Ordnung wird zur emotionalen Kompensation, denn es fehlt der Zugang zu sich selbst. Sidenote: In Woche 8 von „The Yeah – dem Coach in der Hosentasche„, geht es ebenfalls um Perfektionismus – dort gibt eine Übung, die mir persönlich sehr geholfen hat, ihn leichter abzulegen.
Perfektionismus im Alltag
Natürlich hilft die äußere Klarheit dabei, auch mental fokussierter zu sein – das Kopfchaos in Schach zu halten. Viele kreative Köpfe merken jedoch nicht, wie sehr sie sich selbst durch ihren – fast schon zwanghaften – Perfektionismus im Weg stehen. Wie beengt sie an vielen Stellen durchs Leben gehen. Wie unfrei sie sind und welch mentale Gefängnisse sie sich unbewusst bauen. Wie sie den Erfolg nicht genießen können. Oder es kaum ertragen, wenn ein „falscher“ Becher im Schrank steht oder der Stapel mit Magazinen schief liegt. Wie sofort nachgewischt wird, wenn Besuch da war – und dieser sowieso nur dann eingeladen wird, wenn alles perfekt ist. Wie kein Space für Spontanität da ist. Wie Kalender oder Reiserouten minuziös durchgeplant werden. Oder wie schlecht sie abgeben können und es nicht aushalten, wenn andere anders an Sachen herangehen oder sogar Dinge vergessen, die sie selbst niemals vergessen hätten. Das macht ein Zusammenarbeiten oder sogar Zusammenleben nicht leicht.
Fakt ist: Der Antrieb fürs eigene Tun entspringt bei einem Perfektionisten häufig einem Mangel. Da ist dieses nagende Gefühl, die eigene Leistung reiche nicht aus – unabhängig davon, wie viele Millionen man in Wahrheit verdient. Das Gefühl bleibt, der Erfolg kann nicht genossen werden. Diese enge, zurückhaltende Energie sendet immer und ohne Worte. Sie überträgt sich nicht nur aufs gesamte Umfeld, sondern auch auf die eigenen Räumlichkeiten. Sie definiert den Vibe, mit der das Business weiter wächst – ob Freude den Ton angibt, oder eben nicht.
Perfektionismus loslassen
Kreativität kann in so einem Milieu nicht fließen. Das hat zur Folge, dass nicht nur die Leidenschaft flöten geht, sondern auch der Flow ausbleibt. Die Inspiration stagniert – man bekommt die Dinge nicht vom Hof. Der Perfektionist in einem spürt nicht, wann Schluss ist und die Nacht wird zum Tag. Den eigenen Perfektionismus genauer anzuschauen und unbewusste Muster aufzulösen, lohnt aber immer. Dann kehren nicht nur Kreativität, Leidenschaft, Freude und Enthusiasmus wieder zurück: Die Angst vor Fehlern verschwindet auch. Und diesen Antrieb, diese Haltung und diese Energie spürt man bereits beim Betreten der Räume.
Perspektivwechsel
In diesem Artikel geht es um den äußeren, räumlichen Blickwinkel auf das Abschiednehmen. Doch das ist nur die eine Seite der Medaille: Die innere, mentale Perspektive auf den Perfektionismus, gibt es in der Podcastfolge „Perfektion – der Zwang besser zu sein“. Darin geht es darum, welche mentalen Blockaden einen bremsen, wenn man sich selbst im Weg steht und die Kreativität stagniert.




